Ist Nikotin ein Gift?

An einer einfachen Definition von “Gift” ist bereits einer der Urväter der Toxikologie, Prof. Rudolf Kobert, im ausgehenden 19. Jahrhundert gescheitert. In der Einleitung zu seinem 1902 erschienen Lehrbuch Intoxikationen (Band I) behandelt er diese Frage auf fünf eng bedruckten Seiten ohne zu einem schlüssigen Ergebnis zu gelangen. Kobert führt aus, dass der Laie nur unbedingte Gifte (“Gifte schlechthin”) kennen würde und nennt u.a. Arsenik oder Blausäure als Beispiele, wohingegen es in der Wissenschaft keine unbedingten Gifte gäbe. Einerseits würden Gifte in niedriger Dosierung als Arznei verwendet (Beispiele: Atropin, Digitalis), andererseits könnten von Laien als harmlos angesehene Stoffe in hoher Dosierung tödliche Wirkungen haben (Beispiele: Kochsalz, Zucker). Somit sind wir bei der mittlerweile banalen Weisheit von Paracelsus angelangt, dass die Dosis das Gift macht.

In modernes Deutsch transformiert findet man die Ausführungen von Kobert inhaltlich weitgehend unverändert in allen aktuellen Lehrbüchern der Toxikologie. Dazu möchte ich aus dem Standardwerk “Lehrbuch der Toxikolgie” von Marquardt & Schäfer zitieren (S. 1223, 2. Auflage, 2004; Hervorhebung im Original kursiv):

Es muss zunächst noch einmal betont werden, dass ein Agens nicht “giftig” sein kann. Die Begriffe “giftig” oder “Gift” müssen immer auf eine Dosis hinauslaufen: Es mag ein Dosisbereich existieren, in dem ein bestimmtes Agens eine giftige Wirkung entfaltet.
Es gibt immer auch Expositionsbereiche eines Agens,
die keine unerwünschten Wirkungen auslösen.

Somit ist die Aussage, Substanz X sei ein “Gift” ohne Angabe der Dosis sinnlos. Außerdem kann man dem letzten Satz entnehmen, dass die Behauptung, es gäbe keine untere Grenze für die schädliche Wirkung bestimmter Stoffe wissenschaftlich nicht haltbar ist. Es gibt stets eine Konzentration oder Dosis eines Stoffes, die keinen Effekt hat, das sogenannte “no-effect level”, das von Paracelsus vor knapp 500 Jahren erstmals beschrieben wurde.

Da man in den Medien häufig mit Berichten über “Schadstoffe” in der Umwelt, in Nahrungsmitteln und diversen Konsumgütern konfrontiert wird, möchte ich nochmals aus o.g. Lehrbuch zitieren (S. 1224):

Verwirrend ist auch der Begriff “Schadstoff”. Der Begriff “Schaden” kann nicht mit einem Stoff, sondern bestenfalls mit einer zur Auslösung des Schadens benötigten Dosis korreliert werden. Wenn mit einem Schadstoff eine Substanz gemeint sein sollte, die unter bestimmten Bedingungen zu einem Gesundheitsschaden für den Menschen führen könnte,
dann trifft das für fast jede Substanz bei ausreichender Dosierung zu.

Dem entnehmen wir, dass nicht die “Anwesenheit” eines bestimmten Stoffes entscheidend ist, sondern dessen Menge bzw. die Dosis, die vom Menschen bei Exposition aufgenommen wird. Der erfolgreiche Nachweis der “Anwesenheit” eines Stoffes ist von der Empfindlichkeit der gewählten Analysemethode abhängig. Daher werden von den Gesundheitsbehörden für potentiell schädliche Stoffe Grenzwerte definiert. Die Forderung nach “schadstofffreien” Emissionen von Industrieanlagen oder Verkehrsmitteln ist dementsprechend ebenso sinnlos und nicht erfüllbar wie die Forderung nach “schadstofffreien” Lebensmitteln.

Viele Substanzen haben für Menschen in Abhängigkeit von der Dosis sowohl positive als auch negative Wirkungen. Als Beispiele seien Vitamine, Hormone, Spurenelemente und alle wirksamen Arzneimittel genannt, die in angemessener Dosierung nützliche Wirkungen haben, bei Überdosierung aber schädlich sind. Als “unbedingte Gifte” im Sinne von Rudolf Kobert könnte man im täglichen Sprachgebrauch allenfalls jene Stoffe bezeichnen, die ausschließlich schädliche Wirkung entfalten, also auch in niedriger Dosierung in Säugetierorganismen keine positiven Effekte haben. Als Beispiele seien Blausäure (“Zyankali”) oder diverse von Tieren, Pflanzen und Pilzen gebildete Toxine mit bisweilen tödlicher Wirkung genannt.

Nikotin

Aufgrund der Vermarktung neuartiger nikotinhaltiger Produkte als weniger schädliche Alternative zu Tabakzigaretten, sind die Wirkungen von Nikotin zur Zeit von großem gesellschaftlichem und politischem Interesse. Zumeist liest man, Nikotin sei ein “Nervengift”. Aus dem bisher Gesagten folgt, dass diese Aussage aus toxikologischer Sicht sinnlos ist, weil es keine Gifte sondern nur Dosen von Giften gibt. Es ist aber die Frage zu klären, ob Nikotin im allgemeinen Sprachgebrauch als Gift zu bezeichnen wäre, d.h. ein “unbedingtes Gift” im Sinne von Kobert ist.

Sowohl beim Rauchen als auch beim Konsum neuartiger nikotinhaltiger Produkte, z.B. den sogenannten elektronischen Zigaretten, bewirkt die aufgenommene Dosis an Nikotin eine Stimulierung bestimmter Rezeptoren auf Nervenzellen und imitiert damit die Wirkung des Neurotransmitters Acetylcholin. Das ist keine “Giftwirkung” sondern die Nachahmung eines endogenen Wirkprinzips mit positiven Effekten auf den Organismus, die Raucher veranlasst, diesen Stoff lebenslang zu konsumieren und dafür sogar die gut bekannten schädlichen, manchmal sogar tödlichen Wirkungen von Tabakrauch in Kauf zu nehmen. Bei üblicher Dosierung überwiegen Effekte auf das Zentralnervensystem, v.a. die Verbesserung kognitiver Funktionen, wie Lernen, Gedächtnis und Konzentration.

Bei Überdosierung verursacht Nikotin die bekannten Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Schwindel und Kopfschmerzen. Die Blockade der Funktion von Nervenzellen, also die Wirkung als Nervengift, erfordert sehr hohe Dosierung, die nur durch Verschlucken oder intravenöse Applikation entsprechend großer Mengen als Bolus erreicht wird. Dieser neurotoxische Effekt beruht auf Inaktivierung spannungsabhängiger Na+-Kanäle durch Dauerdepolarisation der Nervenzellen.

Zusammenfassend können wir also festhalten, dass Nikotin im wissenschaftlichen Sinn kein Gift ist, weil es “Gifte an sich” nicht gibt, aber auch im allgemeinen Sprachgebrauch nicht als “Gift” zu bezeichnen ist, weil es in üblicher Dosierung positive Effekte hat und die “Giftwirkung” erst bei massiver Überdosierung auftritt, die nur durch Missbrauch erreicht wird.

Grundsätzlich sollten wir uns bei Meldungen in den Medien über sogenannte Schad- oder Giftstoffe in der Umwelt oder in Lebensmitteln nicht mit dem Hinweis auf deren Anwesenheit begnügen sondern stets die nachgewiesenen Mengen und die Dosis bei Exposition hinterfragen. Das gleiche gilt übrigens für die häufig als Pro-Nikotin-Argument genannte “Anwesenheit” von Nikotin in Nachtschattengewächsen wie Kartoffeln oder Tomaten. Kartoffeln enthalten ca. 2 mg Nikotin pro 1000 kg, wovon ca. 20 %, also 0.4 mg vom Organismus aufgenommen und ins Blut gelangen würden.

O. Univ.-Prof. Dr. Bernhard-Michael Mayer
Bereichsleiter Pharmakologie und Toxikologie, Institut für Pharmazeutische Wissenschaften

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